Kurzgeschichten

 

ANJOUS

(© Stephanie K.J.Matthias)

 

 

wird veröffentlicht in: „Geschichten zum Bild Teil 3, Net-Verlag Maria Wiese

 

 

Die Hände lagen noch auf den Tasten. Der Blick nach rechts gerichtet, als wenn er sein Publikum anschauen würde, den Zuschauern ins Auge blicken täte, kurz bevor er beginnen würde. Oder gerade nachdem er geendet hätte.

 

Ein großer schwarzer Flügel, ein Saal, nicht zu groß, Teppiche, antike Möbel, eine warme Atmosphäre, bestens geeignet für ein Hauskonzert. In den Pausen Sekt, Häppchen, Gespräche über Philosophie, Kunst, Musik und Literatur.

 

Aber es war leer. Nur der einsame Flügel stand mitten im Raum. Auf dem marmornen Fußboden. Keine Teppiche. Keine Möbel. Höchstwahrscheinlich miserable Akustik. Niemand. Von Wärme keine Spur. Außer er.

 

Man müsste mal wieder ein Hauskonzert geben. Mal wieder einladen. So war das Leben doch zu trist. Man konnte doch nicht immer nur sich selbst genug sein. Obwohl, das hatte er gelernt. Wie sollte es auch anders gehen.

 

Er lauschte. Im Hintergrund leises Geklapper. Kam aus der Küche. Dienstpersonal. War schon Mittagszeit? Er hatte keine Uhr. Die schöne Standuhr aus Holz mit dem Pendel war auch nicht mehr da. Sollte er noch etwas üben? Um das Hauskonzert vorzubereiten. Vielleicht Mozart. Sonate Nummer vier. Sonst würde das nie etwas werden. Man musste die Dinge auch angehen, anpacken. Man kann nicht immer nur sagen, man müsste mal.

 

Schritte näherten sich. Eine Tür ging auf. „Wie geht es Ihnen heute?“ Das Dienstmädchen. Immer freundlich, das musste man ihr lassen. Er nickte in ihre Richtung. „Ich habe darüber nachgedacht, mal wieder ein Hauskonzert zu geben.“ Sie lächelte. „Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Instrument spielen.“ Was für eine absurde Bemerkung. Hauspersonal. Von Kunst und Kultur keinerlei Ahnung. „Natürlich müssten wir es hier erst wieder etwas gemütlicher machen.“

 

„Na, das würde schon gehen. Das Konzert könnte ja im Gemeinschaftszimmer stattfinden. Wenn Sie wirklich ein Instrument spielen können. Ich kann das ja mal besprechen.“

 

Gemeinschaftszimmer. Er versuchte, sich zu erinnern. Ah, sie meinte sicher den Jägersaal, in dem noch die Geweihe an der Wand hingen. Trophäen seiner Vorfahren. Und die Gemälde. Portäts seiner Ahnen. Vielleicht sollte er vor dem Konzert einen Maler kommen lassen. Es wäre Zeit, sich verewigen zu lassen.

 

Er schloss die Augen. Essensgeruch drang aus der Küche bis zu ihm in den kleinen Saal. Vielleicht lieber im Sommer. Das Konzert könnte im Garten stattfinden. Direkt vor der alten Kirche. Seine Familie hatte gut daran getan, sie damals umbauen zu lassen. Von ihrer spirituellen Atmosphäre hatte das Gebäude nichts eingebüßt. Und wer hatte auf seinem Gut direkt neben seinem Schloss schon eine Kirche? Ja, Sommer wäre besser. Und ihm blieb noch mehr Zeit zum Üben. Vielleicht doch lieber die Goldbergvariationen von Bach. Oder die große Sonate. Beethoven. Dramatisch und lyrisch.

 

Das Mädchen kam zurück und riss ihn aus seinen Gedanken: „Gehen Sie jetzt zum Mittagessen. Nachher gegen fünfzehn Uhr haben Sie einen Termin bei Doktor Janes.“ Doktor Janes, der Hausarzt. Er schaute so oft vorbei. Dabei ging es ihm gut. Ein seltsamer Mann. Offensichtlich hatte er Probleme. Kam wegen Nichtigkeiten vorbei, nur um zu quatschen. Wahrscheinlich brauchte er das Geld. Er fragte sich, warum er ihn nicht längst entlassen hatte. Aber er hatte einfach ein zu großes Herz.

 

Das Essen war mittelmäßig. Wie immer saß er allein an seinem langen Tisch, an dem früher einmal die ganze achtköpfige Familie gesessen hatte: der Großvater mütterlicherseits, die Großmutter väterlicherseits, Mutter und Vater, Gérome, Natalie, Claire, Fabien und er. Heute nur er. Nicht, dass die anderen gestorben wären. Nein, so tragisch war es nicht. Sie wollten einfach nicht mehr hier sein, hatten das Schloss verlassen. Unerklärlich. Aber er war nicht einsam. Im Gegenteil. Es war fast laut. Stimmengewirr. Er hatte hier so viel Personal. Dennoch saß er allein an dem großen Tisch aus massivem Holz. Mit dem Dienstpersonal zusammen, das schickte sich nicht.

 

Er betrachtete den Mann mit den dunklen Haaren und der runden Brille genau. Doktor Janes sah heute schlecht aus. Müde. Seine Haut war bleich, fast gelblich. Er lukte, ohne vom Doktor bemerkt zu werden, von beiden Seiten auf dessen Gesicht, drehte dabei langsam, unauffällig seinen Kopf. Diskretion. Vielleicht war der Arme doch überarbeitet. Oder er hatte familiäre Probleme. Immer, wenn er ihn nach seiner Frau und den Kindern fragte, senkte dieser den Kopf, schaute ihn von unten nach oben mit einem festen Blick an und antwortete, dass er nicht hier sei, um über sein Privatleben zu sprechen. Würde ihm aber gut tun. Ein allgemeines Problem der Ärzte. Nur, weil sie andere heilten, waren die meisten von ihnen der absurden Meinung, nie betroffen sein zu können. Realitätsfremde Menschen. Vielleicht war die Art der Arbeit, die sie machten zu anstrengend. Der menschliche Geist braucht Muße. Ansonsten wird er verrückt. Also doch Herrn Janes weiterhin im Dienst lassen. Sicher hat er eine große Familie und Sorgen, wie er die Münder stopfen kann. Ansonsten würde er nicht jeden zweiten Tag, manchmal auch jeden hier vorbeikommen. Der arme Mann. Und er hatte ja das Geld. Nicht jeder hatte sein Glück. Nicht jeder war in eine wohlhabende, adelige Familie reingeboren worden. Und es war schön zu teilen. Wenn man etwas hatte.

 

„Also, Herr…“ „Anjous.“ Aus irgendeinem Grunde konnte dieser überarbeitete Doktor sich nie seinen Namen merken. Vermutlich litt er schon an Demenz, Alzheimer. Das würde sein seltsames Verhalten erklären. Der Arzt seufzte.

 

Wie konnte er diesem Mann nur helfen.

 

„Wo befinden wir uns?“ Sein Tonfall schien gelangweilt bis genervt. Wusste er noch nicht mal mehr das? Er war erschrocken. Blickte den Doktor mit ehrlichem Mitgefühl an.

 

„Können Sie es mir nicht sagen?“ Es musste schrecklich sein, so orientierungslos zu sein.

 

„Oder wollen Sie nicht?“ Allem Anschein nach war ihm sein Unvermögen unangenehm. Daher jetzt die plötzliche, zugegebenermaßen äußerst unhöfliche Offensive.

 

„In meinem Schloss, Herr Doktor. Erinnern Sie sich denn nicht?“

 

Das Problem war, dass die Menschen nicht mehr aufmerksam waren. Der Mann musste doch den stattlichen Bau bemerkt haben. Das große Tor, das beim Öffnen laut knarrte und direkt auf den breiten Kiesweg führte, der sich durch den großen Garten schlengelte. Ganz am Anfang zur linken eine Statur, immenser Größe, zugegebenermaßen heruntergekommen, restaurierungsbedürftig. Aber dann die großen, prachtvollen Bäume, die den Kiesweg rechts und links säumten. Kastanien. Der Weg ging bergauf und so konnte man das Schloss vom Tor aus nicht sehen. Jedes Mal, wenn er diesen Weg entlangfuhr, genoss er es: das Erscheinen seines Schlosses. Wie aus dem Nichts.

 

Auf der Terrasse vor dem Schloss könnte man das Konzert ebenfalls austragen. Einige Sonnenschirme. Dann käme allerdings die Kirche nicht zur Geltung. Obwohl man auf diese bei schlechtem Wetter ausweichen könnte.

 

Der Arzt schrieb etwas auf ein Blatt Papier. In sein dickes Buch. Ohne dieses Buch konnte der Mann nicht leben. Alles trug er dort ein. Auch das musste mit seinem schlechten Gedächtnis zusammenhängen.

 

„Das hier ist also Ihr Schloss?“ Er blickte sich ein paar Mal ungläubig um.

 

Stolz bejahte er.

 

Dann ein härterer Tonfall: „So sieht also Ihrer Meinung nach ein Schloss aus?“ Ein wenig zusammenreißen musste sich der Gute aber dennoch. Verständnis für Überarbeitung hatte er, für Beleidigungen jedoch nicht.

 

„Ich bitte Sie, mir Abfälligkeiten zu ersparen.“

 

„Entschuldigen Sie.“ Er sah es also ein. „Ich dachte nur, dass wir darüber schon so oft gesprochen hätten.“

 

Routine machte den meisten Menschen zu schaffen. „Ich kann Ihnen von meinen guten Freunden erzählen“, bot er daher an. Resigniertes Nicken seines Gegenübers. Der hielt den Stift schon wieder bereit. Immer alles aufschreiben musste er. „Kennen Sie die Finzi-Contini?“

 

Der Stift sank. „Nein…“

 

„Eine italienisch-jüdische Adelsfamilie.“ Waren wohl alle Ärzte so dermaßen ungebildet?

 

Der Stift pochte jetzt in sekundenschnellen Abständen auf dem Heft. Nervöser Tick.

 

„Wenn ich je von etwas träumen würde und Sie wissen, Doktor Janes, ich brauch das nicht. Alles, was ich will, ist hier. Sehen Sie sich um. Nun ja, Sie können sagen, ich sei genügsam, gerade für einen Adeligen. Das bin ich auch. Ich habe noch nie viel davon gehalten, dass der Mensch immer mehr möchte, sich nie zufriedengibt. Aber ich muss Ihnen sagen, das Grundstück meiner Freunde. Das ist ein wahrer Traum.“

 

Das Gesicht, in das er blickte war verständnislos, leicht gereizt, bei näherer Betrachtung doch eher ratlos. Was waren wohl seine Träume, die dieses sonderbaren Arztes? Waren sie wie die der anderen Menschen? Sie träumten von etwas, Dingen, die sie eines Tages besitzen wollten, Sachen, die sie einmal in der Zukunft machen wollten. Dabei war es so einfach. Denn wo war der Unterschied? Blieb im Nachhinein doch immer nur ein Gedanke, eine Erinnerung.

 

Die Tür ging auf. Das Dienstmädchen von vorhin beugte sich zum Arzt. Sie besprachen etwas. Er gab sich nicht die Mühe, es zu verstehen. Er war nicht neugierig, steckte seine Nase nicht in anderer Leute Dinge. Im Gegenteil. Er lehnte sich in seinem Sessel ein wenig zurück, blickte aus dem Fenster, in eine der großen, grünen Kastanien. Sie wurde vom Wind ein wenig hin-und hergeweht. Ob die beiden ein Verhältnis hatten? Sie sollten. Würde dem Doktor sicher gut tun. Wer glaubte schon an Monogamie. Hoffentlich war er nicht auch noch so einfältig. Aber dem armen Narr schien es an Phantasie zu fehlen. Eine weit verbreitete Krankheit.

 

„Herr Doktor, darf ich Sie wirklich nichts fragen? Ich meine, Sie kommen fast täglich hierher, stellen unentwegt die gleichen – jetzt verzeihen Sie mir das Wort – langweiligen Fragen, sagen ja selbst, dass wir schon so oft darüber sinniert haben. Also bitte ich Sie, für Ihr und mein Wohlbefinden, lassen Sie uns das Ganze doch ein wenig auflockern oder sind Sie wirklich so unfähig, einen Rapport – er wählte absichtlich das französische Wort, diese Sprache war manchmal einfach feiner – von Mensch zu Mensch einzugehen?“

 

Der Doktor schien zu überlegen. Es fiel ihm offenbar schwer. Er hatte es sich ja schon gedacht. Problematisch. Verschanzt, verunmenschlicht hinter der Rolle seines Berufs.

 

„Was kann passieren, wenn wir ein wenig normal uns einer Unterhaltung hingeben?“

 

Der Mann war wahrlich verklemmt.

 

„Deswegen bin ich nicht hier. Das müssen Sie doch verstehen.“ Zum ersten Mal an diesem wunderschönen Tag fühlte er Enttäuschung, sogar Traurigkeit in sich aufsteigen. So eine Zurückweisung hatte er nicht verdient, gab er sich doch rechte Mühe mit dem Arzt.

 

Stille. Doktor Janes sah auf sein Heft, krallte sich an seine Notizen, schien zu hoffen, dass sie ihm helfen würden, ihm die entscheidende Eingebung offenbaren würden. Was auch immer das sein sollte.

 

Er wandte den Blick wieder ab und sah wieder in die Kastanie.

 

„Nun gut. Ich denke, wir sehen uns morgen.“ Der Doktor stand auf. Er sah ihn mitleidig an. Konnte er denn gar nichts für diesen Mann tun? Sah ihm zu. Er räumte seine Sachen, das Heft, den Kugelschreiber in seine Ledertasche, klemmte sie sich unter den Arm, hielt ihm die Hand entgegen. Und dann, fast kumpelhaft: „Also schönen Nachmittag. Bis morgen.“

 

Er ging.

 

Am Abend mistete er zu Hause seine Tasche aus. Dort sammelten sich immer so viele Papiere an, Kassenbons, Werbezettel, eine Broschüre vom Fitness-Studio, Rechnungen von Patienten, die er sorgfältig abheften musste.

 

Und dann…eine Postkarte. Eine Radierung. Eine kleine Kirche, wohl auf dem Land. Vor der Kirche ein kleiner Park. Daneben, am rechten Rand des Bildes ein Haus. Vielleicht das Pfarrhaus. Es erinnerte ihn an eine Kirche in Norddeutschland. Er konnte sich nicht daran erinnern, wer ihm diese Postkarte geschickt hatte, geschweige denn, wann er sie bekommen hatte. Drehte sie um, las: „Sie sprechen über Realität, aber wo ist die? Und wer legt sie fest? Jeder Einzelne, meine ich. Und wenn sich zwei Realitäten überschneiden, dann können wir uns vielleicht treffen und Sie können in mein Schloss kommen.“