Kurzgeschichten

 

ZUG DER FREIHEIT

(© Stephanie K.J.Matthias)

 

 

Ein normaler Tag. Er neigte sich dem Ende zu. Es war noch Winter, aber die Kälte war inzwischen erträglich, der Tag sonnig gewesen und die frühe Nacht sternenklar. Sie ging schnellen Schrittes über den Bahnhofsvorplatz. Die Kapuze hatte sie aufgesetzt, obwohl es nicht regnete. Eine Haarsträhne hing ihr im Gesicht, vor ihrem rechten Auge.

 

Das Bahnhofsgebäude war längst nicht mehr so voll mit Menschen wie tagsüber. Die letzten Züge fuhren für heute ab. Sie musste den Regionalzug nehmen. Die Geschäfte waren bereits alle geschlossen, nur ein Fast-Food-Restaurant und ein kleiner Kiosk waren noch geöffnet. Sie ging zu dem Kiosk und kaufte eine Packung Kaugummi, hielt dem Verkäufer, der ihr zulächelte die Packung hin.

 

„Zwei dreißig.“ Sie legte die Münzen auf den Tresen, wartete auf das Wechselgeld und ging. Die Haarsträhne hatte sie in ihrem Gesicht hängen lassen und auch die Kapuze nicht abgenommen. Sie spürte ein wenig den Alkohol. Warum sah sie so niemand? Um sich der Außenwelt mitzuteilen, musste man immer alles in Worte fassen, tat man das nicht, sah einen niemand.

 

Am Gleis 1A stand schon der Zug zur Abfahrt bereit. Die Gleise mit den unteren Zahlen waren ein wenig versteckt, befanden sich praktisch schon außerhalb des Bahnhofsgebäudes. Bei Schneeregen, wie es in den letzten Wochen häufig der Fall gewesen war, hätte man hier ungeschützt, ohne Überdachung, komplett im Freien auf dem zugigen Bahnsteig auf die Züge warten müssen. Eigentlich fuhren hier nur Güterzüge ab. Aber sie wunderte sich nicht, betrat den düsteren Bereich des Bahnhofsgebäudes.

 

Da sie ihre Außenwelt nur wenig wahrnahm, fiel ihr auch an dem Zug nichts Besonderes auf. Erst, als sie die Stufen der offen stehenden Tür betreten wollte, hielt sie inne. Sie trat einen Schritt zurück, so dass sie den Zug von Außen sehen konnte und starrte ihn einen Augenblick ungläubig an. Er war alt, sehr alt, zwar keine Antiquität, keiner der alten Dampfzüge, die manchmal die Touristen an Sonntagen spazieren fuhren, aber sicherlich stammte er aus der Mitte des letzten Jahrhunderts. Sie hatte solche Züge bis jetzt nur in Filmen gesehen – daher ihre Einschätzung – oder einmal in einem Technikmuseum, welches sie mit den Kindern einer Freundin besucht hatte.

 

Sie kontrollierte die Anzeige: Der Ankunftsort, Abfahrtszeit so wie die Zugnummer waren die üblichen. Es musste sich um den richtigen Zug handeln. Die Waggons waren ebenfalls beleuchtet und im Inneren befanden sich schon, wie jeden Abend zu dieser Zeit, eine gewisse Anzahl von Personen, die darauf warteten in die Peripherie und die Umgebung der Stadt gefahren zu werden.

 

Zögernd stieg sie ein. Plötzlich war sie sehr aufmerksam. An der Tür, die zum Abteil führte, hing ein Plakat:

 

„Die Freiheit des Einzelnen endet da, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“

 

Und darunter stand geschrieben: „Freiheit ist das wertvollste Gut des Menschen. Freiheit ist ein Grundrecht für alle Angehörigen des Volkes. Freiheit ist die Basis der Demokratie.“ Daneben war ein Foto von einem alten, griechischen Gebäude zu sehen. Es konnte nicht bekannt sein, zumindest erkannte sie es nicht wieder.

 

Sie drehte sich nach rechts, um die Tür des Abteils zu öffnen. Vor der Tür hing ein dicker, dunkelroter Vorhang. Langsam schob sie diesen zur Seite, öffnete die Tür, wusste nicht genau, was sie zu erwarten hatte. Sie blickte um sich. Bis auf die alte Einrichtung schien alles normal zu sein. Links saß ein Mann im Anzug, vielleicht ein Manager, der ein Tablet auf dem Schoß hatte. Sie warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm. Er schien die Nachrichten zu lesen, denn die Seite, die geöffnet war, war die einer bekannten Onlinetageszeitung. Rechts saß eine Frau. Sie war vielleicht Mitte dreißig und damit sicherlich zehn Jahre jünger als der Geschäftsmann. Sie sah eher nichtssagend aus. Ihr Kleidungsstil war ein wenig zusammengewürfelt und vom äußeren Erscheinungsbild war es schwierig, auf ihren Charakter zu schließen. Während sie immer noch in der Tür stand und die sich ihr gebotene Szene beobachtete, drängte sich hinter ihr plötzlich ein Jugendlicher vorbei und ließ sich auf dem Platz, der gegenüber der Frau noch frei war fallen. Er trug einen großen Kopfhörer, eine blaue Wollmütze, zwei Kapuzenpullis übereinander, eine relativ enge, löchrige Hose und Turnschuhe. Kaugummikauend vertiefte auch er sich in sein Smartphone und schien in eine Konversation von Nachrichten vertieft zu sein, da er ununterbrochen auf dem Handy etwas schrieb. Gleichzeitig wippte er mit dem Fuß oder klopfte mit dem Fingern zu der Musik, die er offensichtlich über seinen Kopfhörer vernahm.

 

Alles schien normal. Die Personen waren eindeutig Personen aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. Warum hätte sie auch etwas Anderes erwarten sollen. Sie setzte sich dem Mann gegenüber und zog ein Buch aus ihrer Tasche. In fünf Minuten würde der Zug abfahren, wenn er pünktlich fuhr und dann brauchte er noch circa fünfzehn Minuten bis zu ihrer Haltestelle. Genug Zeit, um ein wenig in dem Buch weiterzulesen, was sie erst vorgestern aus der Bücherei mitgenommen hatte.

 

Sie war sehr in die Lektüre vertieft gewesen, so dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass sich der Zug bereits seit einigen Minuten bewegte. Doch schließlich richtete sie ihren Blick auf.

 

Sie hätte beinahe laut aufgeschrien und konnte dies gerade noch verhindern, indem sie sich die Hand vor den Mund presste. Vor ihr saß der Geschäftsmann, aber er hielt statt des Tabletts eine Zeitung in der Hand und trug ein Hemd und eine Cordhose, dazu Krawatte. Neben ihm lag ein Hut. Ungläubig starrte sie auf sein Gesicht. Es war das Gleiche des Mannes, der vorher an dieser Stelle gesessen hatte. Langsam und vorsichtig drehte sie den Kopf in die andere Richtung. Ihr wurde heiß. Die Frau, die sie nicht hatte einordnen können, war die gleiche, die vor fünf Minuten dort gesessen hatte, aber sie trug einen biederen Rock und eine wollene Strumpfhose, so wie einen Mantel, der wie aus einem Vintageladen aussah. Ihr Herz schlug schnell, als sie den Kopf noch weiter drehte, um den Jugendlichen zu sehen, der dort eben noch Musik hörend gesessen hatte und ihre Befürchtungen wurden bestätigt. Er saß immer noch dort, aber er trug keinen Kopfhörer mehr und hatte auch kein Smartphone in der Hand. Statt geschäftig mit Freunden über sein nun nicht mehr vorhandenes Handy zu kommunizieren, blickte er gelangweilt aus dem Fenster in die Dunkelheit. Auch seine Kleidung war eindeutig nicht die Kleidung eines Jugendlichen aus der heutigen Zeit.

 

Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie um sich. Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, begann der Mann, der ihr gegenüber saß, zu sprechen.

 

„Was die sich da wieder einfallen lassen, die Herrn und Frauen Politiker. So geht das nun wirklich nicht weiter.“ Er blickte dabei nicht von der Zeitung auf und man wusste nicht genau, mit wem er nun eigentlich sprechen wollte. „Krankenversicherung für alle, mehr Geld für Kindergartenplätze und Schulen, keine befristeten Verträge mehr. Ja, das ist ja alles schön und gut, was die da wollen, aber wann wird die Menschheit endlich mal verstehen, dass das nicht funktioniert?“ Sie stand immer noch unter Schock und die Worte des Mannes drangen nur langsam zu ihr durch. „Nun, junge Frau, was sagen Sie dazu? Sie sehen mir aus, als könnten Sie diesen ganzen neumodernen Quatsch vertreten. Ich kann dazu nur sagen, der Kommunismus ist ja ´ne schöne Idee, alle gleich, alle haben die gleichen Rechte, aber der Mensch ist nicht dafür gemacht. Das haben wir nun ja wirklich schon ausprobiert. Das hat die Geschichte des letzten Jahrhunderts nun wirklich mehrmals gezeigt.“

 

„Des letzten Jahrhunderts?“, hatte sie plötzlich irritiert gefragt und und sich über sich selbst gewundert, dass sie hatte sprechen können, aber seltsamerweise musste sie feststellen, dass sie von der absurden Idee überzeugt war, eine Zeitreise gemacht zu haben, auch wenn das natürlich unmöglich war.

 

„Na ja, auch dieses Jahrhunderts, wenn Sie wollen.“

 

Völlig perplex schaute sie weiter um sich. War sie wirklich im Gespräch mit diesem Mann, der sich gerade anscheinend verwandelt hatte, in einem Zug, der…

 

Sie kniff sich in den Arm. Sie träumte nicht. Eindeutig nicht. Hatte sie Drogen genommen? Nein, sie nahm nie welche, hatte nie in ihrem Leben welche probiert. Hatte sie zu viel getrunken? Eigentlich nicht und obwohl sie vorhin den Alkohol gespürt hatte, war sie doch weit davon entfernt gewesen, betrunken zu sein. Außerdem, was hatte sie getrunken? Zwei Bier. Vielleicht hatte ihr jemand etwas ins Glas gegeben? Auch unwahrscheinlich. Außerdem fühlte sie sich trotz allem auf einmal sehr klar und nüchtern. Nur, dass nichts zusammen passte.

 

Sie erkundigte sich, wohin der Zug fuhr und zu ihrem Erstaunen und gleichzeitig ihrer Erleichterung war die übernächste Haltestelle ihre. Ihre Neugier wurde größer als ihre Angst. Warum sollte sie nicht mit diesem Mann, der sie immer noch fragend anschaute und auf eine Antwort zu warten schien, sprechen. In zehn Minuten stieg sie aus und der Spuk war vorbei. Hoffentlich.

 

„Also, alle gleich, das funktioniert nicht. Das hält die Wirtschaft nicht aus. Und gesetzliche Krankenkasse für alle. Damit geht das Gesundheitssystem zugrunde. Wie kann man nur auf die dumme Idee kommen, private Krankenversicherungen abschaffen zu wollen.“

 

„Na ja, aus sozialer Sicht, ich meine, um die Zweiklassen…“

 

„Fräulein, sozial, zwei Klassen. Nicht zwei Klassen. Viele Klassen. Wir müssen aufhören, uns etwas vorzumachen. Glauben Sie etwa diesen Schwachsinn, dass jeder Mensch gleich viel Wert ist? So naiv hätte ich sie ja gar nicht eingeschätzt. Dann sag ich ihnen jetzt mal was: Wer mehr Geld hat, der ist mehr Wert. Ganz einfach. Harter Satz? Eigentlich nur ganz banale Realität. Sie wollen eine gute Arbeit bekommen? Haben Ihre Eltern viel Geld, können Sie sich eine Topausbildung leisten, haben Sie mittelmäßig viel Geld, gehen Sie vielleicht auf eine dieser vielen staatlichen Universitäten, wo sich hierzulande fast alle tummeln und kommen am Ende zusammen mit der großen Masse raus. Das ist der Durchschnitt. Überlebensfähig, aber was Dolles kommt dabei nicht rum. Wird man in noch ärmeren Verhältnissen geboren, also unter dem Durchschnitt, unter der erbärmlichen, so genannten Mittelklasse, wird’s dann schon ganz schön bitter. Aber jetzt seien Sie doch mal ehrlich. Sie halten sich doch tief im Innersten – oder vielleicht muss ich auch gar nicht so tief schauen – auch für etwas Besseres als den Immigranten, den Penner oder arbeitslosen Sozialschmarotzer. Ja, klar, natürlich nicht, wir sind ja alle gleich viel Wert, aber dass der Immigrant in ´nem Asylantenheim wohnt und der Arbeitslose in ´ner schlechteren Wohnung als Sie und alle diese drei von mir jetzt zufällig gewählten Kategorien sich keinen Sommerurlaub, keine Restaurantbesuche, Fitness-Studioabos oder was Sie auch immer in Ihrer Freizeit so machen, leisten können…schöne Kleidung, Bücher, Theaterbesuche, die neusten technologischen Geräte…was Ihnen eben so wichtig ist, und Sie können das, das ist für Sie doch ok. Wollen Sie etwas abgeben von dem, was Sie haben? Ich glaube nicht. Die meisten Menschen träumen davon, in der Zukunft mehr zu haben. Mit dem Status Quo sind die wenigsten zufrieden. Jetzt werden Sie sicher sagen wollen, dass ja nicht Sie sondern die Reichsten etwas abgeben sollten, da die ja genug haben. Ja, das ist aus Ihrer Perspektive so. In Ihrer Realität. Und in der Realität des Obdachlosen oder des Einwanderers oder sogar einer Person, die in einem anderen Land wohnt, welches Sie mithelfen auszubeuten, damit Sie zum Beispiel billig an Kleidung und neuste Technikgeräte oder was auch immer kommen, haben Sie genug oder besser gesagt zu viel. Wollen Sie etwas abgeben? Wenn ja, dann wählen Sie diese Trottel, die das vorschlagen.“

 

Wütend schlug er auf die Zeitung.

 

Der Junge sah immer noch aus dem Fenster, hatte jedoch den Kopf hin- und hergewiegt, während der Mann gesprochen hatte. Plötzlich begann er zu reden. Nur kurz, immer noch aus dem Fenster blickend: „Von dem Willen beseelt als gleichberechtigtes Glied…“ Er hielt inne, drehte den Kopf zu dem Mann und sagte: „…dem Frieden der Welt zu dienen.“ Selbstbewusst fragend blickte er auf ihn, wandte den Blick dann wieder ab.

 

Der Mann reagierte nicht auf diesen Kommentar. Die Frau in dem Rock und der Bluse ebenfalls nicht und schaute hingegen aufmerksam in Richtung des Mannes, als wenn sie noch mehr von ihm erwarten würde.

 

„Das denke ich auch“, sagte sie schließlich, an den Herrn gewandt. „Ich bin für Helfen. Ja, man soll den Menschen helfen. Denken Sie nicht, dass ich nicht sozial eingestellt bin.“ Bei dem Satz drehte sie sich plötzlich zu ihr. „Aber niemand kann helfen, wenn er selbst in Schwierigkeiten ist. Es bringt nichts dem Ertrinkenden die Hand hinzuhalten, wenn man selber nicht auf solidem Boden steht. Deswegen ist es auch Schwachsinn, zu denken, dass wir hier jedem helfen könnten, der gerne Mal herkommen möchte, weil er sich denkt, dass es hier schöner ist. Ja, das mussten wir uns aber auch hart erarbeiten, ich meine wir, als Gesellschaft. Und da ist es doch logisch, dass wir uns das nicht einfach wieder wegnehmen lassen. Für das, was man sich erkämpft hat, muss man weiterkämpfen. Sonst ist es irgendwann weg.“

 

„Es gibt Krieg, wenn zu viele Tiere am Wasserloch stehen. Das ist Natur“, sagte der Mann triumphierend. „Sie können nicht denken“, er hatte sich nun vorgelehnt und sich ausschließlich ihr zugewandt „dass der Mensch altruistisch oder gar sozial veranlagt ist. Es geht ums Überleben, ums pure Überleben und wenn es heißt du oder ich, dann denkt jeder du.“

 

„Du was?“ Der Junge hatte sich plötzlich den beiden zugewandt.

 

„Bitte?“

 

„Du, was?“

 

„Wie, du was? Was soll das heißen?“

 

„Du oder ich, einer von uns beiden muss sterben oder du oder ich, nur einer kann überleben. Der Kontext ist unklar. Und ohne Kontext macht es keinen Sinn. Man weiß nicht, was Sie meinen, obwohl ich es mir denken kann.“

 

Er drehte sich wieder zum Fenster, wippte mit dem rechten Bein, welches er lässig über das linke geschlagen hatte.

 

Der Mann schaute ihn noch einen Moment lang etwas irritiert an, schlug dann seine Zeitung wieder auf und las darin weiter.

 

„Aber Sie haben gerade vorhin gesagt, dass ich, also wir dazu mitbeitragen, andere Länder auszubeuten“, hatte sie plötzlich begonnen zu sprechen. Der Mann hob den Kopf, widersprach nicht. „Und Sie sagen“, sie wandte sich der Frau zu, „dass der Wohlstand hart erarbeitet sei.“

 

„Auf jeden Fall“, unterbrach sie die Frau. „Und da kann ich dem Herrn nur Recht geben. Es hat nicht nur etwas damit zu tun, dass man sich absichern muss, dass nicht Andere hierher kommen, um das alles zunichte zu machen, was hier aufgebaut worden ist, aber auch vor den Tagedieben muss man sich schützen, vor denen, die nichts zustande kriegen, die auf der faulen Haut liegen und nichts Besseres zu tun haben, als das System auszusaugen, denn generell ist alles hart erarbeitet…“

 

„Erbschaft.“ Der Junge wandte den Kopf nicht vom Fenster ab.

 

Die Frau sah verärgert zu ihm rüber. „Und daher sind soziale und kommunistische Ideen zutiefst ungerecht und beruhen nur auf Neid. Neid von Leuten, die einfach nicht das Gleiche verdient haben.“

 

„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“

 

„Sagen Sie mal, jetzt seien Sie mal ruhig.“ Der Mann schmiss die Zeitung auf den Platz neben sich. „Was soll den dieses vorlaute Gequatsche? Wer hat Sie eigentlich um Ihre dumme Meinung gebeten?“

 

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern… Leider manchmal…aber es ist so.“

 

Genervt schnaubte der Mann, schien dann zu befinden, dass es besser sei, den Jungen links liegen zu lassen und wandte sich wieder ihr zu. „Also, wo waren wir stehen geblieben.“

 

„Ich hatte eine Bemerkung über das gesagt, was vorhin Sie und dann die Frau…“

 

„Richtig, Sie gehören sicher zu diesen unglaublich korrekt denkenden Menschen, die jetzt einwenden wollten, dass, wenn wir schon daran beteiligt sind, dass wir andere Gesellschaften ausbeuten, zumindest dann diese Menschen aus diesen Ländern bei uns aufnehmen müssen. Wissen Sie was: Müssen wir nicht. Weder Sie noch ich, noch irgendwer hier hat die Gesetze in anderen Ländern gemacht und wenn es dann möglich ist, dass Menschen dort ausgebeutet werden, unter schlechten Bedingungen leben, dann ist das nur der natürliche Lauf der Dinge. Das Geld regiert. Es regiert alles. Geld, nennen Sie es Geld, Wasser, ja, das Wasser am Wasserloch.“

 

„Und überhaupt“ lehnte sich die Frau nun auch noch zu ihr, „da kommen diese Menschen aus Gebieten, die ein ganz anderes Wertesystem haben. Die haben noch nie etwas von unserem demokratischen Wertesystem gehört. Mein Gott, die wissen gar nicht, was Demokratie ist.“

 

Der Junge begann zu lachen. Etwas schien ihn unglaublich zu amüsieren. Er schien fast von einem hysterischen Anfall geschüttelt zu werden:„Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“

 

Irritiert sah die Frau in seine Richtung. Der Mann machte beschwichtigend eine Handbewegung, so als wenn er ihr zu verstehen geben wollte, dass sie ihn ignorieren solle.

 

„Es ist im Prinzip immer wieder der gleiche Punkt. Man kann nicht Anderen helfen, wenn man dadurch sich selbst zerstört. Das wäre ja auch völlig sinnlos, da man dann nicht mehr weiter helfen kann. Der Herr sprach vorhin von Klassen. Ich spreche von denen, die aus anderen Ländern kommen, aber im Prinzip ist es das Gleiche. Das, was man hat, muss man schützen. Wenn das geschützt ist, dann kann man auch anderen helfen.“

 

„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, rezitierte der Junge ohne jegliche Betonung. Sie schaute zu ihm und blickte dann an ihm vorbei durch das Fenster. Sie fuhren jetzt über Land, draußen war es dunkel und es hatte angefangen zu regnen. Der Regen bildete dicke Tropfen, die durch den Fahrtwind Schlangen bildeten und schräg an den Fenstern des Zuges herunterliefen. Normalerweise wäre das eine ruhige, entspannende Heimfahrt gewesen, aber heute war es eben ganz anders.

 

„Nun gut“, setzte der Mann wieder an: „Ich denke, Sie sind nicht dumm. Ein wenig gutgläubig vielleicht, aber das wird Ihnen das Leben schon noch abtrainieren. Es sei denn, Sie sind wirklich dämlich. Na, denken Sie darüber nach. Über das, was ich gesagt habe. Ich denke, Sie haben verstanden. Auch ich fände eine bessere, eine gerechtere Welt schöner, aber so ist sie nicht und das muss man akzeptieren. Wir haben die Regeln des Lebens nicht geschaffen, wir müssen nur nach den Regeln spielen. Ansonsten verliert man, man scheidet aus oder wird disqualifiziert. Ganz einfach. Also, ich glaube, junge Frau, Sie müssen hier aussteigen. Sie haben mich doch vorhin nach dieser Haltestelle gefragt. Der Zug fährt bereits ein.“

 

Langsam erhob sie sich. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, wusste immer noch nicht, wie ihr geschah. Sie blickte den Mann an, der ihr aufmunternd zunickte, die Frau, die ein Gesicht machte, was fast einer Grimasse glich. Es wollte wohl sagen, dass sie ihm zustimmte und dass er offensichtliche Dinge gesagt hatte. Der Junge blickte aus dem Fenster, zog sich seine blaue Mütze ein Stück weiter ins Gesicht.

 

Sie nahm ihre Tasche, drehte sich um, ging durch den Abteilgang. Plötzlich hörte sie, wie jemand mit einem Ruck aufstand. Sie blickte zurück. Der Junge stand im Gang, hatte sich die Mütze über die Augen gezogen und sprach schnell, als wenn er ein unglaublich langweiliges Gedicht herunterleiern müsste, was man ihm aufgetragen hatte, auswendig zu lernen: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens etcetera, etcetera, bla, bla, bla…benachteiligt oder…“ Er drehte sich immer noch mit über die Augen gezogener Mütze zu der Frau und schien sie unter dieser zu fixieren. Obwohl sein Blick unter der Wolle versteckt blieb, war er durchdringend. „…bevorzugt werden.“

 

Sie beobachtete, wie die beiden sich anstarrten, die Wollmütze und das Wachsgesicht. Wer würde diesen Wettkampf gewinnen? Sekunden vergingen. Der Zug begann zu quietschen. Es waren die Bremsen. Er fuhr langsamer. Die ersten beleuchteten Häuser waren durch das Fenster zu sehen.

 

Auf einmal nahm der Junge den Blick von der Frau, schob mit der rechten Hand die Wollmütze aus seinem Gesicht, drehte den Kopf zu dem Mann und sagte dann mit eiskalter Stimme: „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“

 

Belustigt drehte er sich auf dem Absatz um, so, als wenn er fast mit einer Tanzeinlage beginnen wollen würde und lächelte sie an. Er zog die Mütze vom Kopf und verneigte sich vor ihr: „Schönen Abend, gnädige Frau.“

 

Schweigend drehte sie sich wieder um und verließ das Abteil. Sie wartete darauf, dass der Zug hielt. Sie blickte wieder auf das Plakat, das sie am Anfang ihrer ihr nun endlos erscheinenden Zugfahrt gesehen hatte.

 

In dicken, roten Buchstaben stand da auf schwarzem Hintergrund: „Deine Freiheit ist dort beendet, wo meine beginnt“ und weiter unten in der Ecke „und da beginnt der Kampf.“