Kurzgeschichten

 

AQUARIUM

(© Stephanie K.J.Matthias)

 

 

Er, der dunkelbraunes Haar hatte, was ihm bis zu den Wangenknochen ging, jetzt gequetscht und leicht verschwitzt unter der dunkelroten Wollmütze klebte, fuhr mit seinem Fahrrad um die nächste Ecke. Es war kalt. Dezember. Dennoch liebte er den kühlen Wind, der ihm beim Fahren um die Nase und die Wangenknochen wehte. Er war befreiend, klärend. Genau das brauchte er, bevor er ihn traf.

Er radelte an den Häusern vorbei, den Häusern der Reichen, verspürte jedoch keinen Neid, hatte nie verstanden, warum die Häuser in dieser Gegend zu solch horrenden Preisen verkauft wurden. Sie waren nicht schön. Eher spießig. Die, die einzeln herumstanden. Die Mehrfamilienhäuser hingegen sahen aus wie skurrile Altersheime mit zu großen Fenstern, die sich vom Boden bis zur Decke erstreckten. Je größer die Fenster, desto teurer wahrscheinlich die Wohnung. Sicher, es war die Lage. Der große Stadtpark war gleich nebenan. Trotzdem. Zwischendrin die Villen. Manch einer hatte versucht, ein Bauhaus nachzuahmen, sah eher aus, als wenn man nun in einer Garage wohnen würde. Und mittendrin das Aquarium. Er sah es schon vom Weiten. Das große Haus mit dem herausstehenden immensen Fenster, in dem im bläulichen Licht im Inneren Pflanzen an dem Glas aufgereiht waren und sich nach oben rankten. Dahinter konnte man, vor allem jetzt im Winter, wenn es draußen dunkel und drinnen hell war, das große Wohnzimmer sehen, die silberne Stehlampe, die Ledersofagarnitur mit dem Glastisch, dahinter den Esstisch, sogar das Gemälde an der Wand, wenn man genau hinschaute. Schwarze Tapete. Das Glubschauge der Villa seines Vaters. Er stellte sein Fahrrad vor dem Gelände ab, schloss es an einer Straßenlaterne an. Pflichtbesuch. Es war kurz vor Weihnachten.

 

Er, der weißes Haar hatte und davon auch nicht mehr gerade viel, rückte seine Krawatte zurecht. Er trug gerne Krawatte, auch privat. Das hatte einen gewissen Stil und wer weiß, vielleicht würde sein Sohn ja auch noch in diesem Alter von ihm lernen. Vorbildfunktion. Die hatte er immer noch.

Er war ein wenig nervös. Die Zusammentreffen mit Daniel waren nicht einfach, endeten meist im Streit und mit der Folge, dass sie sich dann lange Zeit nicht mehr sahen. Wann hatte er den Jungen eigentlich verloren? Nach der Scheidung? Aber er wollte nicht die ganze Schuld diesem Zustand zuschreiben. Er musste einfach nach Themen suchen, die nicht heikel waren, aber welche sollten das sein. Über Politik konnte man mit Daniel nicht sprechen. Er hatte diese typischen Ansichten eines Linken, der zu faul war, seinen Hintern hochzubekommen und einen sinnvollen Beitrag in der Gesellschaft zu leisten. Dabei war er ein so intelligenter Junge. Super Abitur, Studienabschluss mit Auszeichnung. Und dann? Er musste ihn fragen, was er jetzt eigentlich machte. Doch gerade das war ein Tabuthema. Also keine Politik, kein Berufsleben. Vielleicht könnten sie über Sport sprechen. Er wünschte sich so sehr, dass das Verhältnis zu seinem Sohn wieder besser werden würde, so wie früher als sie gemeinsam angeln gegangen waren, klettern oder Kanu fahren, als sie noch zusammen gezeltet hatten, er ihn damit hatte beeindrucken können, ein Lagerfeuer anzumachen und ihm sein Würstchen darin zu grillen, das er dann glücklich und dankbar verspeiste. Heute war Daniel Vegetarier.

 

Daniel ging durch das große Tor, schritt, fast ehrfürchtig, den Weg zum Aquarium hinauf, ließ dabei das Glubschauge nicht aus dem Blick. Der große Mercedes stand vor der Garage. Drinnen waren also der Porsche und der BMW. Oder Juliette war mit einem der beiden unterwegs. Sie war nur fünf Jahre älter als er. Er verstand seinen Vater nicht. War es möglich, wenn man sich permanent mit Geld und Erfolg ablenkte, das Leben wahrzunehmen? Aber das war nicht sein Problem. Sie waren verschieden, das musste er endlich akzeptieren. Er wollte nur nicht wieder mit ihm streiten, sich nicht wieder dafür rechtfertigen müssen, dass er im Leben nichts zustande bekam, nur weil die Maßstäbe das Leben seines Vaters waren. Enttäuschen, das war das Einzige, was er ihn konnte. Bestimmt würde sein Vater ihn nach seiner Arbeit fragen. In den letzten Tagen hatte er lange hin- und herüberlegt, was er sagen sollte. Die Wahrheit war, dass Eva schwanger war und er plante, bei dem Kind zu bleiben, während sie so schnell wie möglich wieder arbeiten gehen wollte. Undenkbar.

Er ging die Stufen hinauf, zog an der Zunge des affigen goldenen Löwenkopfs, hörte im Inneren die Klingel läuten.

 

Es schellte. Er war da. Auf einmal war seine Vorfreude, seinen Sohn nach so vielen Monaten wieder zu sehen, verflogen. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, Juliette wäre da gewesen. Als Puffer. Es war doch nicht möglich, dass sie gemeinsam eine oder zwei Stunden verbrachten. Bestimmt hatte Daniel gar nicht kommen wollen, sich gezwungen gefühlt. Traurigkeit stieg in ihm auf. Jetzt war es zu spät, solche Gedanken wenig hilfreich. Er ging zur Tür, öffnete.

 

„Hallo.“ Er musterte ihn.

„Guten Abend, Vater.“ Sogar eine Krawatte. Nur um seinen Sohn zu empfangen.

„Komm rein, komm rein. Draußen ist es ja kalt.“ Er wedelte mit den Armen, gab Zeichen, einzutreten, nahm seinem Sohn Jacke, Mütze und Schal ab.

„Danke.“ Er beobachtete, wie sein Vater ein wenig unbeholfen seine Sachen in der Garderobe platzierte. Dinge, die er sonst nie machte.

Sie gingen ins Wohnzimmer. „Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?“ Formell, wie er es so oft gehört hatte, wenn Geschäftspartner dieses Haus betreten hatten. „Einen Wein? Cognac? Gin? Whiskey?“

„Hast du Bier?“

„Ja sicher.“ Er hatte extra drei kalt gestellt. Warum hatte er vergessen, danach zu fragen.

Während sein Vater in die Küche ging, sah Daniel sich um. Es hatte sich nichts geändert. Das Haus war steril wie je zuvor. „Ist Juliette nicht da?“ rief er etwas lauter seinem Vater hinterher. Die Geräusche aus der Küche drangen zu ihm ins Wohnzimmer, das Klappen der Kühlschranktür, etwas fiel runter, ein leichtes Scheppern. Juliette interessierte ihn nicht.

„Nein“, tönte es aus der Küche, „Sie ist heute mit Freundinnen unterwegs.“ Oder mit ihrem Liebhaber, schoss es Daniel durch den Kopf.

Sein Vater kam mit einem mit Bier gefüllten Saftglas zurück, drückte es Daniel in die Hand, ging rüber zu seiner Hausbar, schenkte sich einen Whiskey ein: „Wollen wir uns nicht setzen?“ Ihm kam seine eigene Geste zu formell vor. Er schämte sich, dass er sich seinem eigenen Sohn gegenüber nicht natürlicher verhalten konnte.

„Wie geht’s?“ Daniel setzte sich auf das Ledersofa.

„Gut. Wir haben schon den Weihnachtsbaum gekauft.“ Der Vater wies auf den großen, prächtigen Baum, der schon geschmückt in der Ecke stand. Daniel hatte ihn gar nicht durch das Glubschauge bemerkt.

„Habt ihr einen?“ Er schüttelte den Kopf, wollte sagen, dass heute schon genügend Bäume starben, biss sich auf die Zunge. Sein Vater nickte.

„Wie bist du gekommen? Ich hätte dich wirklich abholen können? Ich meine, du hast doch kein Auto. Da ist das doch alles so unbequem.“ Gerne hätte er seinem Sohn etwas Gutes getan.

„Mit dem Fahrrad. Geht schon.“ Schon wieder fing er an. Dieser alte, selbstgefällige Typ, den es nicht interessierte, ob er mit seinen dicken Protzautos die Umwelt verschmutzte, der nicht darüber nachdachte, ob es in Zeiten der Klimakrise nicht angebracht wäre, keinen Baum abholzen zu lassen, dem es nicht einfiel, ein wenig bescheidener zu leben. Er hatte den Status Quo mit seinem egoistischen Denken und seinem Bedürfnis, überall zu zeigen, dass er der Größte war, überhaupt erst herbeigeführt. Typen wie er.

„Hast du von deiner Mutter gehört?“

„Wenn du wissen willst, wie es ihr geht, hast du ihre Nummer.“

Daniel machte es ihm wirklich nicht einfach. Er versuchte händeringend ein Einstiegsthema zu finden, ein wenig einfachen Small Talk. Nichts schien zu funktionieren. Wut stieg in ihm auf. Am liebsten hätte er ihm gesagt, dass er auch wieder gehen könne, wenn er offensichtlich keine Lust habe, seinen Vater zu sehen, anscheinend ihn und seinen Lebensstil verachtete, denn woher sonst kam diese Kälte, die ihm entgegen prallte. Aber er sollte dann nicht auf sein Erbe hoffen. Darauf schielte er doch trotzdem immer mit einem Auge. Verlogen. Neid war das Einzige, was Daniel hatte. Daher diese Garstigkeit. Er wollte ein Leben wie seins, aber sich dafür nicht anstrengen müssen.

Daniel fuhr mit dem Finger über den Rand seines Glases: „Feiert ihr Weihnachten allein?“

„Juliette und ich, ja. Es sei denn, du möchtest…“

„Nein, Danke…ich meine, tut mir Leid, aber ich feier mit…“

„Eva, ja klar…du weißt, du kannst sie gerne mitbringen. Ich würde sie gerne mal kennenlernen.“

„Ja, ein andermal, sicher, gerne. Aber Weihnachten haben wir schon etwas geplant.“ Er wunderte sich, dass sein Vater sich den Namen gemerkt hatte.

Der Vater schwenkte sein Whiskeyglas: „Wie geht’s dir sonst so? Was machst du?“

„Meinst du beruflich?“

„Nein, nein! Generell, so im Leben.“ Stille. „Machst du Sport?“

„Ich fahre Fahrrad. Jogge.“

Der Vater nickte wieder. „Kletterst du noch?“

Daniel schüttelte den Kopf. „Eva ist nicht gerne in den Bergen. Klettern hält sie für zu gefährlich.“ Sicher, so war es. Wenn die Partnerin etwas nicht mochte, galten plötzlich andere Regeln. Er hätte seinen Sohn für charakterstärker gehalten, nicht dass er sich von einer Eva vorschreiben ließ, was er zu tun und zu lassen habe. Er hätte sich etwas Anderes für Daniel gewünscht. Vielleicht war es ja nichts Ernstes. „Wie lange seid ihr schon zusammen?“

„Drei Jahre.“ Das hatte ihn sein Vater noch nie gefragt. Daniel war erstaunt über dessen plötzliches Interesse. Doch sie kamen der Sache zu Nahe. Er merkte, wie er nervös wurde, musste eine Frage stellen, das Thema wechseln, aber was? Arbeit, Politik, Arbeit, Politik. Gab es nichts Anderes?

„Habt ihr denn Reisen fürs nächste Jahr geplant?“ Kurz war er dankbar, dass sein Vater die Initiative ergriffen hatte, dann merkte er, dass auch das ihn nicht weiter weg von der Wahrheit bringen würde. „Ja, eh nein. Nein. Nächstes Jahr nicht.“

„Warum nicht? Kein Geld?“ Er bereute es in dem Moment, als er es aussprach, wusste gar nicht, warum er das Wort in den Mund genommen hatte, hatte er es sich doch vorher verboten. Es war geschehen. Daniel würde wutentbrannt aufstehen, ihm Beleidigungen an den Kopf schmeißen, ihn als egozentrischen Kapitalisten beschimpfen und sie würden sich bis nächstes Weihnachten nicht mehr wiedersehen. Oder schlimmer, nie mehr. Er hatte ihn ganz verloren. Verzweifelt blickte er von seinem Whiskeyglas auf, seine Hände zitterten ein wenig. Aber Daniel war noch da, schaute zunächst seine Hände, dann ihn besorgt an: „Geht´s dir gut Vater?“ Dankbar blickte er seinem Sohn ins Gesicht: „Ja, ja. Ja sicher. Ich meine, wenn du Geld brauchst…Reisen ist wichtig…erweitert den Horizont…und eine Pause braucht jeder.“ Sein Sohn brauchte keine Pause. Er machte nichts. Die letzte Information, die er diesbezüglich bekommen hatte, war, dass Daniel nach dem Studium in einer Fabrik ausgeholfen hatte, um, wie er gesagt hatte, auch die nichtakademische Arbeitswelt kennen zu lernen, Respekt vor jedem Job zu bekommen, nicht arrogant zu werden. Nach sechs Monaten hatte er diese Zwischenerfahrung aufgegeben und seitdem, soweit es ihm bekannt war, machte er nichts.

Daniel sah seinen Vater erstaunt an. Er wollte kein Geld von ihm annehmen. Das war an Bedingungen gebunden und sei es nur , dass er sich mehr in Daniels Leben einmischen würde, er sich mehr rechtfertigen, mehr Informationen preisgeben müsste. „Danke, aber wir reisen nicht. Ist ja auch nicht gut fürs Klima. Vielleicht an die Ostsee für ´ne Woche.“ Das Klima. Schon wieder ein Angriff. Daniel war zu einem militanten, vegetarischen Klimaaktivisten geworden, der den Leuten, die es sich leisten konnten, ihren Spaß am Leben nicht gönnte. Als wenn bei dem vielen Flugverkehr eine Sommerreise den Unterschied machen würde. Und inwiefern konnte man seinen Horizont an der Ostsee erweitern. Schuld war sicher diese garstige Eva.

Daniel blickte auf die Uhr, sein Vater erschrak: „Bleib noch ein wenig. Wir sehen uns doch so selten. Warte.“ Er stand auf und trabte aus dem Zimmer. Verwundert darüber, dass sein Vater auf seine Gesellschaft offensichtlich Wert legte, schaute Daniel ihm hinterher. Er kam mit einem Fotoalbum zurück. Daniel rollte die Augen: „Vater, willst du mir wieder Fotos von früher zeigen? Als noch alles heile Welt war. Du und Mutter noch zusammen wart. Wir uns nicht nur einmal im Jahr gesehen haben. Wirklich? Die Zeit ist vorbei! Ich bin nicht mehr dieser kleine Junge, den du in den Wald, zu den norwegischen Fjorden, in die Anden und an einen Strand nach Thailand schleppst und damit beeindrucken kannst.“

Der Vater stand vor ihm, reglos, das Album in der Hand. Er schien unentschlossen, einen Moment fast verzweifelt, ließ dann seine Arme sinken, setzte sich, legte das Album geschlossen auf den Tisch, blickte auf den Boden: „Aber es war doch eine schöne Zeit.“

 

Er ging, schob sein Fahrrad neben sich, durch die Kälte. Sein Blick vor sich auf den Fußweg, aber eigentlich nach Innen gerichtet. Er war geblieben, hatte diesem Ausdruck nicht widerstehen können, sie hatten gemeinsam die Fotos angesehen. Er wollte die Wut aufrechterhalten, aber sie zerfloss in Traurigkeit. Er hatte davon erzählt, dass er Vater wurde, für einen kurzen Moment in ein erschrockenes Gesicht gesehen, bevor es sich wieder gefangen hatte. Er hatte nicht davon erzählt, dass er nach der Elternzeit anfangen werde zu arbeiten, sein erster richtiger Job, in einer Topfirma, er hatte schon unterschrieben. Das hätte seinem Vater gefallen.