Kurzgeschichten

 

SCHWARZ-WEIß, WEIß-SCHWARZ

(© Stephanie K.J.Matthias)

 

 

Vier Menschen standen in dem Rathauseingang. Es war nicht irgendein normaler Rathauseingang, er stammte aus vergangenen Zeiten, wurde heute nicht mehr benutzt, zumindest nicht als Rathauseingang, das Gebäude auch nicht mehr als Rathaus, sondern als Museum. Das komplette Foyer war schwarz-weiß gekachelt, der Boden, die dicken, imposanten, gebogenen Säulen, sogar die Decke. Eine Familie, Vater, Mutter, ganz klassisch und zwei Kinder im Grundschulalter drängten sich in sein Blickfeld. Sie standen fast noch in der Eingangstür, blickten in diesen speziellen Raum, die einzige Sache, die nicht schwarz-weiß war, war der rote Teppich, der die Treppe, welche nach oben führte und der Eingangstür gegenüberlag, bedeckte. Sie standen still, wie festgehalten, wirkten verunsichert, selbst die Kinder hatten, nachdem sie eingetreten waren, das den Eltern sichtlich nervige Gezappel unterlassen. Der Vater bewegte schließlich langsam den Kopf aus dieser Momentaufnahme, blickte den Mann an, der aus seinem kleinen Glashäuschen gekommen war.

Manuel Mann hatte sich erhoben, als sie den Raum betreten hatten. Eben noch hatte er hinter seiner Scheibe gesessen, auf den Boden gestarrt. Dahin starrte er auch jetzt wieder, auf den Boden. Schwarz-weiß, weiß-schwarz. Glänzend. Immer die gleiche Struktur. Ein weißes umringt von vier schwarzen, ein schwarzes umringt von vier weißen.

Der Vater und die Mutter sahen sich an, die Kinder die Eltern. Der Mund der Frau bewegte sich, eine Frage an ihren Ehemann tauchte darin auf, die nicht ausgesprochen wurde.  Der Vater wich ihrem Blick aus, richtete seinen ebenfalls auf den Boden, wie Manuel Mann. Schwarz-weiß, weiß-schwarz. Die Kachelstruktur verschwamm vor Manuel Manns Augen. „Wir wollen schließen.“

 

Der Vater schüttelte seinen Arm, unter seinem Hemd trat eine Armbanduhr hervor, er wollte gerade vorwurfsvoll auf diese blicken, aber etwas hielt ihn im letzten Moment zurück, sagte ihm, dass er mit diesem Mann dort keinen Streit anfangen sollte. In der Luft lag etwas Irritierendes, eine Spannung, die es bis eben gerade, da draußen auf der Straße nicht gegeben hatte.

 

Sie mussten gehen, sie mussten jetzt, auf der Stelle gehen, dachte Manuel Mann, er würde es nicht mehr aushalten, der Boden begann vor seinen Augen zu kreisen, die quadratischen Kacheln lösten sich in einem schwarz-weißen, weiß-schwarzen Brei auf, der nur noch grau vor ihm hin-und herschwabbte. Geht, geht! Als wenn er diese Worte laut ausgesprochen hätte, reagierten die vier, drehten sich um, es schien wie in Zeitlupe und entfernten sich, die vier Gestalten verschwanden einer nach dem anderen hinter dem dunkelroten Vorhang, er hörte das Geräusch der Tür, auf, er wartete eine Ewigkeit, zu. Doch noch war er nicht erleichtert. Er musste noch zum Eingang gelangen, um diesen zu verschließen, sich noch durch den grauen Brei durchkämpfen. Konzentration auf die Kacheln. Er versuchte eine einzige anzuvisieren. Dann würde es leichter werden. Weiß. Schwarz-weiß. Weiß-schwarz. Nein schwarz-weiß. Man sagte schwarz-weiß. Das war unglaublich modern, passte in eine offene, gleichgestellte Gesellschaft, es erstaunte ihn, dass das Schwarz zuerst erwähnt wurde. Er hatte noch nie zuvor darüber nachgedacht. Die Gedanken halfen ihm und er tastete sich vorwärts, Schritt für Schritt über den gekachelten Boden. Quietschen, die Tür ging auf, der Vorhang wurde zur Seite geschoben, da standen nur im Abstand von zwei oder drei Metern, zu nah, viel zu nah, zwei junge Frauen vor ihm. Anfang zwanzig, blond, leicht bekleidet, denn draußen war Sommer. Sie lachten laut, doch als sie ihn sahen, verstummte ihr Lachen augenblicklich. In ihren Gesichtern zeichnete sich Erstaunen ab, Verstörung, es war der gleiche Ausdruck, der vorher auf den Gesichtern der Familie zu sehen gewesen war, nur dass die Änderung, waren die beiden doch lachend hereingekommen, hier sehr abrupt geschehen war.

„Wir wollen jetzt gerne schließen“, stammelte Manuel Mann. Die zwei jungen Frauen zögerten, drehten sich dann um, tuschelten etwas. Würden sie nicht gehen? Warum flüsterten sie, was besprachen sie da? „Es ist schon spät. Wir wollen jetzt gerne schließen“, wiederholte Manuel Mann, nun mit fester Stimme, in der Hoffnung, dass diese Worte sie beim zweiten Mal endgültig herausschieben würden und es ihm gelingen würde, gleich hinter ihnen die Tür zu erreichen und diese endlich, ein für allemal zu verriegeln. Doch da drehten sie sich blitzschnell wieder zu ihm um, die von ihm aus gesehen links Stehende zog ihr Handy aus der Tasche oder hatte sie es schon in der Hand gehabt, es ging alles so schnell, und ein Blitz traf Manuel Manns Gesicht. Lachend rannten die zwei weg. Manuel Mann begann zu schwitzen, der Boden vor ihm wurde wieder zu einem grauen Brei, er würde die Tür nie erreichen können, seine Beine schienen in sich zusammenzusacken. Schwarz-ein Schritt-nein grau-es war schon spät, fast 16 Uhr-weiß-er musste-weiß-nach Hause-schwarz-hatte versprochen-weiß-nein schwarz-nein doch weiß-schwarz hatte er eben gesagt-obwohl nein-schwarz-schwarz-hatte versprochen pünktlich-weiß-schwarz-weiß-hatte doch versprochen-nur ihretwegen-weiß-oder-schwarz-sonst hätte er es doch gar nicht getan. Manuel Mann wurde schwindelig. Er sackte zusammen, spürte nur noch den kalten, schwarz-weiß, weiß-schwarz gekachelten Boden auf seiner linken Wange.

 

Wenige Leute waren gehen 16:30 Uhr auf der Straße. Ein Gewitter zog auf, es hatte schon begonnen, zu stürmen, der Wind blies ein paar Blätter und leichten Müll, der auf der Straße lag, über die Plätze. Über einen dieser Plätze lief Manuel Mann. Es war der Platz auf der Rückseite des Rathauses. Die schwarze Backsteinfassade kam ihm heute besonders gespenstisch vor. Die Tatsache, dass es sich lediglich um eine Fassade handelte, hinter der kein Gebäude anschloss und deren oberste Fensterreihe hohl auf den Platz glotzte, ließ ihn jeden Tag wieder aufs Neue erschaudern. Leute wie du haben keine Angst. Aber er war doch trotz allem keiner von ihnen. Wieder wurde ihm schwindelig. Seine Hüfte tat vom Sturz weh, aber er versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Das Mauerwerk, an dem er jetzt vorbeilief, bestand nur aus einer Farbe. Das half. Er rannte weiter durch die Straßen der Stadt, an den vielen Backsteinhäusern mit ihren kleinen Fenstern vorbei. Boten aus einer anderen Zeit. Jedes Mal, wenn er durch die Straßen dieser Stadt ging, hatte er das Gefühl, dass sie ihm etwas mitteilen wollten. Heute hörte er stumme Schreie. Er bemerkte gerade noch den weißen Kopf der dicken Frau, welcher aus einem der offenen Fenster direkt neben ihm auf die Straße starrte. Beinahe hätte er aufgeschrien, lief noch schneller weiter. Die Frau blickte ihm hinterher. Er spürte ihren Blick in seinem Nacken. Er musste sich beruhigen. Die Frau hätte ihn beschreiben können. Schnell, schnell, er musste nach Hause, hatte es versprochen, endlich wieder da zu sein.

 

„Noch Suppe?“ Manuel Mann hörte die Stimme wie aus der Ferne, nickte trotzdem. Die Suppenkelle näherte sich daraufhin seinem Teller, er hielt die Hand darüber, gab Zeichnen, dass er nichts mehr wollte. Die Stimme setzte zu einer Frage an, hielt dann inne. Manuel Mann wartete. Schwarz-weiß. Würde sie weitersprechen? Weiß-schwarz. Immer wieder hatte er sich diese Szene ausgemalt. Nur deswegen hatte er es getan, um wieder hier zu sein, um hier mit ihr zu sitzen, um ihr zu genügen. Doch in seiner Phantasie war die Szenerie eine andere gewesen, die Atmosphäre nicht so aufgeladen, jeden Moment konnte sie zerbersten.

Sie hatte sich dagegen entschieden, weiter zu sprechen, war gegangen. Aus der Küche hörte Manuel Mann noch Geklapper.

Die Frau aus dem Fenster hatte ihn gesehen. Das war kein Beweis. Er hätte vorher wissen müssen, ob er es aushalten könnte. Er konnte ihr eben doch nicht genügen, konnte auch dieses Problem nicht lösen. Es schauderte ihn. Er war lächerlich. Nein, er brauchte nur Luft, ein bisschen frische Luft, sie war ja auch zu schwül, zu aufgeladen gewesen vom Gewitter. Und dann diese heiße Suppe. Das Foto. Diese lästigen Gören hatten ein Foto von ihm gemacht, wie er dort schwitzend, verwirrt in der Halle gestanden hatte. Kein Beweis. Auch das kein Beweis. Oder doch? Schwarz-weiß, weiß-schwarz, ihm wurde wieder schwindelig. Er sprang auf, der Stuhl fiel um, rannte aus dem Haus, hörte noch die Stimme seiner Frau, die ihm etwas hinterherrief. Die Haustür klappte zu.

 

Der Kommissar öffnete und schloss ununterbrochen seinen Kugelschreiber. Er bedauerte in solchen Situationen immer wieder, dass man hier nicht rauchen durfte. Es hätte auch ein gewisses Etwas gehabt, hätte einschüchternd wirken können. Der Typ, der vor ihm saß, widerte ihn an. Er hatte dieses siegesgewisse, dumme Grinsen in seinem Gesicht, schien sich sicher, dass sie ihm nichts würden beweisen können. Ohne Zweifel war er einer der härteren Brocken, nicht leicht aus der Ruhe zu bringen aufgrund einer angeborenen Dreistigkeit, einem fehlenden schlechtem Gewissen und der Fähigkeit, sein eigenes Verhalten nie in Frage stellen zu müssen. Nicht wie dieser andere Typ, den er gerade verhört hatte, dieses nervöse Hemd, was ihm am liebsten seine komplette Arbeit erspart hätte, die kleine Folterei mit den Fragen, die den Verdächtigen immer mehr in die Ecke drängten, dieses nette Katz-und-Maus-Spiel, was ihn auch nach dreißig Jahren noch amüsierte. Manch einer sollte wirklich darüber nachdenken, ob er der Sache gewachsen sei. Dieser hier war es. Leider.

 

Manuel Mann starrte wieder auf den Boden. Er fühlte sich elend seit Tagen, hatte wenig zu sich genommen, war völlig übermüdet, fand nur minutenweise Schlaf. Seine Gedanken kreisten, verdrehten sich, verklebten. Schwarz-weiß, weiß-schwarz. Sein Kopf dröhnte. Er schlug die Zeitung auf, um sich abzulenken. Mord am Hafen – er hätte wissen müssen, dass er nicht den Charakter dafür hatte – Verdächtiger sitzt verhört – war schon immmer eine Niete gewesen, jemand, der seine Frau nicht glücklich machen konnte, da er keine Arbeit auf Dauer behalten konnte – musste aufgrund fehlender Beweise entlassen werden – da er an unerklärlichen Unruhezuständen litt, die sich jetzt nach der Sache potenziert hatten – wird verdächtigt eine Frau am Samstag Nachmittag, am helligten Tage am Hafenbecken B verstümmelt zu haben. Es ist unklar, ob …

Manuel Mann überflog die Zeilen. Nächste Überschrift: Diamant aus Rathaus gestohlen. Polizei ermittelt. Das Pochen in seinem Kopf nahm zu. Es wäre jetzt wichtig, einen kühlen Kopf zu behalten, klar zu denken, strategisch, die Sache durchzuziehen. Er senkte den Kopf wieder auf den Boden, hatte das Bedürfnis, nur die Kacheln des Küchenbodens zu beobachten, wie sie vor seinem Auge tanzten, brachte nicht mal mehr den Mut auf, in seine Tasche zu greifen, lag es nicht allein an ihm, hatte er nicht die Situation in der Hand, es gehörte nur ein wenig Mut dazu. Er musste sich nur entschließen, in eine der beiden Richtungen zu gehen, in eine, egal welche, sich bewegen. Manuel Mann ließ die Arme sinken. Schwarz-weiß, weiß-schwarz.