Veröffentlichungen

 

DIE FLUCHT

(© Stephanie K.J.Matthias)

 

veröffentlicht „Im Zaubergarten der Worte 2018 – Anthologie“, R.G. Fischer

 

Sie stand am Meer, gedankenversunken, und blickte zum Horizont. Sie liebte das Meer. Es war wunderschön. Wunderschön und gleichzeitig beunruhigend, aber auch, wenn das Meer natürlich etwas Gefährliches haben konnte, empfand sie es immer wie einen Freund. Einen weisen Freund, der hilft, der auch warnt, aber der letztendlich nie hinterhältig ist. Woher sie dieses Gefühl nahm, wusste sie auch nicht, waren doch schon viele Menschen im Meer ertrunken.

Das Meer war heute weit draußen. Ebbe. Sie erblickte es gerade mal am Horizont, aber dort am Horizont bewegte sich etwas Seltsames. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, konnte es jedoch nicht richtig erkennen, aber irgend etwas passierte dort am Horizont und sie wurde von einem leicht unruhigen Gefühl ergriffen. Ruckartig entschloss sie sich, umzudrehen und die weit ins Meer ragende Sandbank so schnell wie möglich zu verlassen. Sie blickte auf eine große Düne, die einem Berg, zumindest einem Hügel glich und am Anfang des weiten Strandes in der Ferne lag. Auf diese führte eine Seilbahn. Sie hätte von der Sandbank aus zu Fuß laufen können, aber mit der Seilbahn war sie schneller. Sie drehte sich nicht mehr um. Sie hatte Angst. Sie wollte nicht wissen, was dort hinter ihr am Horizont passierte. Das beruhigende Gefühl des Meeres war einer plötzlich klaren Angst gewichen, die sie sich nicht erklären konnte, der sie aber wie einem Instinkt, ohne sie in Frage zu stellen, folgte. Sie war nun in der Luft, befand sich in der Gondel, die an dem Seil hing. Auf der einen Seite beruhigte sie die Höhe, in der sie im Moment war, auf der anderen Seite empfand sie den kleinen Raum der Gondel und die Geschwindigkeit der Seilbahn, die sie nicht beschleunigen konnte, als Gefängnis. Was passierte hinter ihr? Wie schnell kam diese Sache näher? Wie hoch kam sie? Schneller, fahr schneller. Als sie auf der großen Düne angekommen war, stieg sie aus der Gondel aus und rannte weiter, immer noch ohne sich umzudrehen. Sie spürte etwas Großes, Unheimliches in ihrem Nacken. Sie erreichte die erste U-Bahn-Station und stieg sofort ein, nahm die Linie, die zu der gegenüberliegenden Seite der Stadt führte, dort, wo die Berge begannen, so weit weg vom Meer wie möglich. Sie drehte sich auch nicht um, als sie an der Endhaltestelle der U-Bahn, am Fuß der Berge angekommen war, in der Peripherie der Stadt, sondern stieg sofort in ein altes, dunkelblaues, halb verrostetes Auto ein, welches dort stand und auf sie zu warten schien. Seltsamerweise, instinktiv wusste sie, dass sie es benutzen konnte.

 

Sie stieg ein und fuhr in Eile den Berg hoch. Dieses unbestimmte und doch eindeutige Gefühl trieb sie an. Die Straße war eng und schmal und wurde, je weiter sie den Berg hochfuhr zu einem staubigen Weg. Wäre ihr jemand entgegengekommen, wären sie nicht aneinander vorbeigekommen. Außerdem wäre es höchstwahrscheinlich zu einem Unfall gekommen, da sie die schmale, steinige Straße in rasender Geschwindigkeit bergauf fuhr. Aber daran dachte sie gar nicht. Sie hatte nur diese unglaubliche Angst sich umzudrehen, nach hinten zu sehen. Sie wusste, dass irgendetwas Furchtbares hinter ihr her war, dass sie sich in Sicherheit bringen musste und etwas sagte ihr, dass nur dieser Berg, nur die Spitze, die äußerste Spitze dieses Berges sie in Sicherheit bringen konnte. Auf der Bergspitze befand sich ein großes Haus, was sie schon von Ferne gesehen hatte. Dorthin wollte sie. Das war ihr Ziel. Sie fuhr in die letzte Kurve, brachte das Auto vor dem Haus, welches sich als ein Restaurant herausstellte, zum Stehen, stieg aus und rannte ins Restaurant. Sie befand sich auf der Terrasse eines luxuriösen Nobelrestaurants. An mehreren Tischen saßen Pärchen. Fast alle waren mittleren Alters oder älter. Die Tische hatten alle eine weiße Tischdecke und die Teller und Bestecke waren golden. Es war still. Niemand sprach. Man konnte nur das leise Klirren der Bestecke hören. Keine der Personen schien irgendetwas wahrzunehmen oder sie zu sehen, geschweige denn, mit seinem oder ihrem Gegenüber zu sprechen. Dennoch schienen sie alle zufrieden und ruhig. Niemand schien dieses unerklärliche Angstgefühl zu haben oder, wie sie, vor irgendetwas zu fliehen. Niemand schien die wahnsinnig große Welle gesehen oder gehört zu haben, die vom Meer her angerollt war. Sie drehte sich von den Personen weg und wollte auf die Stadt sehen, denn jetzt, da sie sich in Sicherheit fühlte, traute sie sich zum ersten Mal, zurückzublicken, um zu schauen, vor was sie geflohen war. Und da erschrak sie in einem Maße, das sie sich in ihrem schlimmsten Traum nie hätte vorstellen können. Vor ihr tat sich der grauenvollste und widerlichste Anblick auf, den sie je gesehen hatte. Sie hatte es im Gefühl gehabt, dass sie vor einer Welle geflohen war, vor einer Riesenwelle und wollte nun sehen, was diese Welle in der Ferne, am Strand, an der Küste angerichtet hatte. Ihr blieb die Luft im Halse stecken. Direkt vor der Terrasse des Restaurants, direkt vor ihren Füßen, im Abstand von fünf Metern war Wasser, war das Meer. Das Meer, was viel tiefer und mindestens zehn Kilometer weiter entfernt liegen müsste, war direkt hier, war ihr gefolgt und hatte die ganze riesengroße Stadt verschlungen. Sie konnte durch das Wasser hindurch schemenhaft die Häuser erkennen, wie eine dunkle, graue, tote Masse in der Tiefe. Die Spitzen der großen Kirchen wirkten als würden sie fast bis an die Wasseroberfläche ragen und man konnte sie besser sehen. Es war, als wenn sie an der Wasseroberfläche kratzen würden, aber waren doch untergegangen. Eine ganze Stadt, ausgelöscht, überflutet vom Meer. Der Tod lag ihr zu Füßen.

 

Und die Menschen in dem Restaurant aßen ruhig und sahen nichts. Sie sahen nicht einmal in Richtung Meer. Sie schienen nicht zu bemerken, dass das Meer fünf Meter vor ihnen lag und gerade eine komplette Stadt vertilgt, verschluckt hatte. Man konnte nur das leise Klirren der Bestecke wahrnehmen und eine unglaubliche Ruhe.