Veröffentlichungen

 

VERDAMMTE SCHÖNHEIT

(© Stephanie K.J.Matthias)

 

veröffentlicht in: „Im Zaubergarten der Worte – Anthologie 2019“, R.G. Fischer“

 

 

Der Kies knirschte unter ihren Füßen. Sie blickte nicht nach oben, nur auf die kleinen, grauen Steine, die das Geräusch unter ihren Schuhsohlen machten. Sie wollte es sehen und hatte dennoch Angst. Davor, dass sie es nicht würde sehen können.

 

Noch ein paar Sekunden. Die Luft spüren, tief einatmen, sich darauf vorbereiten. So tun, als wenn es nicht vorhersehbar wäre. Vielleicht irrte sie sich ja auch. Vielleicht, endlich mal.

 

Sie spürte die Sonne in ihrem Nacken und roch die angenehme Frühlingsluft. Natürlich mochte sie das. Natürlich war das schön, ja sicher wunderschön. Natürlich hatte sie es gut. Und dennoch. Und da hörte sie es auch schon, in der Sprache dieses Landes. Obwohl sie es erwartet hatte, obwohl es nur eine Frage der Zeit, von Sekunden, maximal von Minuten gewesen war, erschrak sie trotzdem ein wenig: Bello! Bellissimo! Kein Wunder. Ein anderes Adjektiv kannten sie hier nicht. Ihr wurde fast übel. Vor Wut. Vor Enttäuschung. Vor Verzweiflung. Sie trug den Kopf immer noch nach unten geneigt, stand noch immer da, mit geschlossenen Augen, sog die Luft ein, versuchte, sich nur darauf zu konzentrieren und bereitete sich noch einmal vor. Auf die Schönheit. Dann, langsam öffnete sie die Augen, blickte auf das Panorama, dass sich ihr darbot. Der Garten war fürstlich, mit beschnittenen Hecken und Büschen, dazwischen imposante Vasen mit Palmen oder noch nicht blühenden Blumen. Die Kieswege verzweigten sich genau dort, wo sie stand. Ein Wegweiser zeigte in alle Richtungen. Nach unten ging´s zur Villa. Nach oben zum Café und zur Toilette. Hinter ihr der Eingang. Die anderen Besucher, die in ihrer Nähe waren, eilten alle sofort zu der Balustrade. Natürlich, sie sah es schon von hier, dort hatte man den besten Ausblick auf diese wunderschöne Stadt, die vor ihr lag und auf die sie, dank dieses Gartens, der an einem Hang lag, nun hinunterblicken durfte. Wie viele hätten ihr Leben gewollt.

 

Auch sie ging zur Balustrade. Fühlte nichts. Viele Dächer lagen vor ihr. Viele braune kleine Dächer. Schön, ja, sicher. Wunderschön. Braune Dächer. In der Mitte die große, imposante Kathedrale. Gut, dass sie die damals im fünfzehnten Jahrhundert gebaut hatten. Ansonsten sähe es wahrlich langweilig aus. Sie erschrak vor sich selbst, als hätte sie etwas Verbotenes gedacht, blickte dann auf die gegenüberliegende Seite des Tals, hinter die unzähligen braunen Flecken, dort, wo die Stadt endete und sich vereinzelte Villen am Hang die Hügel hinaufzogen, wo auch seine Villa lag, eigentlich ihrer beider, sah dann nach links, wo am Horizont die Berge zu erkennen waren, die auf ihren Spitzen noch Schnee trugen. Blauer Himmel. Nicht eine Wolke war zu sehen. Alle schienen das hier wunderschön zu finden, machten mit Begeisterung Fotos, die wahrscheinlich schon tausendfach auf Facebook und Instagram zu sehen waren. Immer das gleiche Motiv, immer die gleiche Perspektive, einmal von etwas weiter oben, einmal von etwas weiter unten, immer die braunen Dinger da mit der Kirche, die aus ihnen rausglotzte. Fast schon angewidert wandte sie sich ab. Zum Glück war er nicht mitgekommen. Sie hätte ihn nicht ertragen können, seine ganze Erscheinung, sein nettes Gesicht, sein korrekt frisiertes Haar, sein glatt gebügeltes Hemd, seine lässig getragenen Hosen, seinen perfekten Stil, seine angebrachte Freundlichkeit, sein gutes Benehmen, seine Hilfsbereitschaft, sein Lächeln, seine Richtigkeit. Wie der Ausblick.

 

Sie nahm den Kiesweg Richtung Café. Es ging ein wenig bergauf. Da sie noch recht winterlich an diesem Frühlingstag gekleidet war, begann sie zu schwitzen, öffnete ihre Jacke, nahm den Schal ab und steckte ihn in ihre Tasche. Knirschen. Knirschen der Touristen, die durch den Garten schlenderten. Vor dem Café noch ein Aussichtsplateau. Wieder lächelnde Gesichter, wieder Fotos, wieder Ausrufe dieses leidigen Wortes. Hier sollte noch irgendwo so ein Tunnel sein, ein Tunnel aus Blumen, durch den man durchgehen konnte. Das war die große Attraktion dieses Gartens. Bis jetzt hatte sie allerdings noch kein Schild gesehen, das darauf hinwies. Würden ja eh noch nicht blühen, die Blumen, fiel ihr ein. Also bräuchte sie auch nicht weiter danach suchen. Sie schaute nochmal um sich, auf die Stadt. Blutleer, leblos. Neben ihr das Schild: Ausgang. Gut, es gab einen zweiten Ausgang. So würde sie wenigstens nicht die vom Museum beleidigen, den Mann, der ihr so freundlich zugelächelt hatte, als er ihr die Eintrittskarte verkauft hatte. So freundlich und vielversprechend, als wenn er einem Kind den Einlass in einen Vergnügungspark gewährt hätte. Auch er wusste schon, was die Besucher dieses Gartens erwartete, war überzeugt von der unumstrittenen Schönheit. Schönheit! War das eigentlich ein Kompliment? Verschlang sie nicht alles, jegliches Gefühl? Erdrückte, machte dumpf, bezwang jeglichen Gedanken, jeglichen Witz, weil sie so sehr in sich ruhte, so sehr sich selbst genügte? Sie musste hier weg, raus. Ging nach unten, Richtung Ausgang, überholte eine Familie. Mutter, Vater, Kind. Sonntagsausflug. Sie musste sich beeilen. Um ein Uhr waren sie bei Freunden zum Mittagessen eingeladen. Auf dem Land. So warm, wie es heute war, würde das Essen sicher auf der Gartenterrasse stattfinden. Im Sommer, vielleicht ab Mitte Mai würden sie das Wasser für den Pool einlassen. Sah zwei junge Frauen. Wahrscheinlich Anfang zwanzig. Aus Asien. Selfies. Vielleicht würden sie auch noch einen Abstecher Richtung Meer machen. Zeit genug hatten sie am Nachmittag. Wo war der Weg nach draußen? Da, ein Treppchen, Ausgang. Steil ging es nach unten. Drei Amerikaner. Wahrscheinlich. Sprachen zumindest auf Englisch. Und dann heute Abend spät zurückkommen. Ein Drink oder ein kleines Essen am Meer. Vielleicht. Da war der Ausgangsbereich. Natürlich mit Souvenirshop. Eine Frau vor ihr. Sie sprach in der Landessprache: „Unglaublich! Ein unglaublich schöner Park. Schade, dass noch nicht alles blüht, aber dennoch. Ich komme im Sommer wieder. Wirklich unglaublich schön.“